Historisches Archiv der Region Biel, Seeland und Berner Jura

Der Jungburschenkrawall von 1918

Stadt Biel - Arbeiter und Arbeiterinnen - Arbeiterbewegung - Erster Weltkrieg - Ideologien - Jugend - Kinder - Politische Aktivitäten - Schweizer Armee - Wirtschaftskrisen




Nein, die kleine siebenjährige Lotti Engelberger wollte es nicht begreifen, weshalb ihre Eltern mit einem Mal besorgte Gesichter aufsetzten und am späten Nachmittag unverhofft ihre Gastwirtschaft «Simplon» an der Ecke von Schmiedengasse und Rathausgässli schlossen. Aber Auskunft wollten sie der Kleinen auch nicht geben. Lotti und ihre Schwestern wurden nach oben in die Wohnung im ersten Stock geschickt.
Es war ein heisser Julitag, der nun sachte in einen schwülen Abend überging. Die Mädchen drängten sich ans Fenster und schauten zum Burgplatz hinüber, wo sich Menschen angesammelt hatten. Polizei befand sich dort, die Feuerwehr, und auch Soldaten in blauen Uniformen. Die Kinder sahen erstaunt, wie überall bei den Geschäften eilends die Rollläden heruntergelassen und Fensterläden geschlossen wurden. Beim «Bääsetööri» hatten sich einige junge Leute zusammengerottet. Die Menschen schienen aufgeregt, als ob sie auf etwas warteten. Es lag ein dumpfer, bedrohlicher Ton in der Luft, als grolle irgendwo entfernt ein schweres Gewitter.
Die kleine Lotti war aufgeregt und wollte wissen, was denn da Seltsames im Gang sei. Aber die Mutter befahl den Kindern, in den Hintergrund der Wohnung zu kommen. Der Ton draussen hatte sich nun zu vielstimmigem Rufen und Schreien gewandelt, manchmal schien es, als überschlage es sich in einem Aufheulen. Dann wiederum glich es dem bedrohlichen Grollen eines wilden Tieres. Und nun sah die kleine Lotti, die sich unbemerkt ans Fenster geschlichen hatte, fasziniert zu, wie eine Menschenmenge, Männer wie Frauen, von der Mühlebrücke her kommend, sich über den Burgplatz wälzte und vor dem Rathaus, in dem gerade eine Stadtratsitzung begonnen hatte, innehielt. Vor dem Eingang des Rathauses standen Soldaten, Gewehre in den Händen. Jetzt brandeten drohende Schreie aus der Menge zu den geschlossenen Fenstern des Stadtratsaales empor.
Lotti verstand nicht, was die Menschen riefen, aber als sie plötzlich gestreckte Arme sah, die zum Wurf ausholten, begriff sie, was geschah: Die Menschen auf dem Platz warfen die Fensterscheiben des Rathaussaals mit Steinen ein. Nun begann die Feuerwehr Wasser in weiten Kaskaden über die brüllende Menge zu spritzen. Doch die wütenden Menschenmassen wichen nur kurzfristig zurück, dann warfen sie sich erneut gegen die Soldaten und die Feuerwehr. Bis Schüsse ertönten. Die Soldaten hatten auf Befehl in die Luft gefeuert. Die Leute auf dem Platz rannten, von Militär und Polizei verfolgt, in Richtung Rathaus- und Untergässli davon. Einige flüchteten auf die Kirchenplattform.
Unterhalb des Hauses sah Lotti entsetzt, wie Leute mit Stangen, Knüppeln, Dachlatten, Gewehrkolben oder was sie sonst gerade in den Fäusten hielten, einander blutig prügelten. Das Gesicht an die Fensterscheibe gepresst, blickte das Mädchen auf die kämpfenden Menschen im Rathausgässli hinunter. Da zerschlug klirrend ein Stein die Fensterscheibe! Die kleine Lotti fühlte es plötzlich warm über ihre Wange rinnen. Als sie mit ihrer Hand darüber strich, rötete sich diese augenblicklich vom strömenden Blut. Das war das letzte Bild, das die kleine Lotti Engelberger vom legendären Jungburschenkrawall in sich aufnahm, bevor ihre Mutter sie tröstend in die Arme schloss.


Autor: Urs Karpf / Quelle: Urs Karpf, Alles hat seine Stunde, Verlag Zytglogge 1918