Historisches Archiv der Region Biel, Seeland und Berner Jura

Aus einer Rede anlässlich der Verleihung des dritten Literaturpreises des Kantons Bern, 1976

Stadt Biel - Kinder - Kommunikation - Literatur - Musik - Persönlichkeiten




"...unsere Neugierde gilt dem Ungesicherten. Sie gilt dem Versuch, Wirklichkeit abzutasten, zu befragen, durch Sprache darzustellen. Sie gilt der Idee, dass die Sprache selbst als Teil dieser Wirklichkeit zum Thema wird, und sie gilt der Hoffnung, dass wir - als Gesellschaft - uns noch durch Sprache verständigen und ermutigen können. Der Hoffnung vor allem.
Meiner Herkunft nach, die nicht auf Neugierde aus war, sondern auf ängstliches Mundhalten und Stillsitzen, dürfte ich an dieser Hoffnung nicht teilhaben.
Meine Mutter erwartete im Sommer 1930 ein Mädchen, stellte sich dann aber doch Michelangelos David auf den Nachttisch; sozusagen für alle Fälle. In diesem eher schlechten Weinjahr kam ich zur Welt, an einem nebligen Oktobertag, im elterlichen Schlafzimmer. Meines Wissens verkehrten meine Eltern weder damals noch später im Matrosenmilieu; dennoch steckten sie mich, als ich vier war, in einen Matrosenanzug.  Ich scheine ein fröhliches Kind dargestellt zu haben; von Angst war, sagt man mir heute noch, nichts zu merken.
Doch ich hatte Angst: Angst vor der Schule, das heisst vor bestimmten Lehrern,; Angst vor dem uniformierten, mit Blasmusik durch die Stadt donnernden Jugendcorps; Angst vor dem Turnen, oder, wie ich heute weiss, vor der Turnerideologie.
Es war die Zeit, in der ein gesunder Geist ausschliesslich in gesunden Körpern hauste; und gesunde Körper besassen die guten Turner.
Es war die Zeit, in der schmutzige Fingernägel auf eine schmutzige Fantasie hinwiesen, und wer als Kind einem Erwachsenen nicht zwei Minuten lang ins Gesicht sehen konnte, ohne zu blinzeln oder rot zu werden, hatte irgendetwas zu verbergen, war nicht sauber übers Nierenstück.
Ich nahm mir die Angst übel, versuchte, sie zu überspielen. Während dieser Jahre erwog mein Vater, mir einen Gradhalter zu kaufen, ein serienmässig angefertigtes Korsett für Kinder, die vornübergeneigt gingen, einen Buckel hatten oder auch nur einfach den Kopf einzogen.
Ich hatte zu lernen: am Reck brachte ich es bis zum Aufzug, und je gepflegter in der Pubertät meine Fingernägel wurden, desto verworfener kam ich mir vor.
Hin und wieder gab ich Notsignale. Sie wurden als Ausdruck einer ausgeglichenen Frohnatur gedeutet und honoriert. Ich habe oft versucht, mich zu erinnern, wie es wirklich gewesen ist, damals; aber ich erinnere mich nur an meine Erinnerungen: an Stummheit, Lähmungen, Fluchtversuche, Schreck, Tarnung.
Was ich heute noch zur Schulzeit sagen kann: sie begann im Sonntagsanzug und endete in einer Turnhose.
Bald darauf wurde mein Vater nicht zum Stadtbaumeister von Biel gewählt, obschon einflussreiche Politiker zu seinen guten Bekannten zählten.
Die ganze Zeit über hatte er zu Hause das wiederholt, was sie, die Politiker, ihm vorsagten: dass Politik ein schmutziges Geschäft sei, dass man dieses Geschäft am besten ihnen, die sich darauf verstünden und doch saubere Hände behielten, überlassen sollte. Als er endlich begriff, wie sehr er sich hatte täuschen lassen, dass er doch Politik gemacht hatte, nur nicht als Subjekt, sondern als Objekt, nicht handelnd sondern erleidend, starb er.  Die Ärzte baten darum, sein Leiche öffnen zu dürfen, um die Todesursache herauszufinden. Ich glaube nicht, dass sie sie haben herausfinden können.
Dass einer seine Ungeduld nicht unterdrücken, sondern ausleben soll: das habe ich von ihm gelernt, gemeinsam mit ihm, und dafür bin ich meinem Vater noch heute dankbar.
Rückblickend sehe ich: es waren blasse Jugendjahre, ausgerichtet auf ein frühes, angepasstes und unauffälliges Erwachsenendasein. So etwas wie Glück hatte ich bisher fast immer als Einzelner erfahren, kaum in einer Gemeinschaft mit Gleichaltrigen. Ich hatte jahrelang ohne jede Beziehung vor mich hingelebt, eingeschlossen in mich selbst. Die Wirklichkeit der Bücher war mir wirklicher als meine eigene Wirklichkeit. Was immer geschah: es löste sich auf zu einer Folge von zusammenhanglosen Momentaufnahmen; Gespräche wurden zu Monologen, und davon blieben wieder nur einzelne Wörter zurück.,  oder eine besondere Wendung, eine Dialektfärbung, ein ungewohnter Sprechrhythmus.
Mir gingen die Augen erst auf, als ich die Not anderer entdeckte, die Not der in eine fast totale Beziehungslosigkeit Verstossenen, der Abgeschobenen, der Ungeliebten und Vergessenen.
Die andern: das waren Kinder, Jugendliche, und ich lebte ein Jahr lang mit ihnen, die man schwererziehbar nennt, in einem Haus, das Heim genannt wurde.
Glück erfuhr ich jetzt in meiner Anteilnahme und auch in meinem Versagen; in der Ungeduld und auch als Neugierde: in einer plötzlichen, wilden Weltverliebtheit.
Samstagnachmittage lang sass ich bei ihnen, später mit Freundinnen und Freunden, in kaum möblierten Zimmern, in Kammern, Buden und Kellern.
Wir hörten Platten,die wir nach Beschreibungen in der Zeitschrift "Down Beat" oder nach Empfehlungen der Stimme Amerikas in New York bestellten: Jazz. In dieser Musik war enthalten, was uns beschäftigte: Aufstand und Poesie, Spontaneität und Erfindungskraft, Freiheit und Neuland. Diese Musik musste nicht gepflegt werden, sie sprengte Grenzen und Vorurteile. Sie war unsere Sprache.
Ich versuchte oft, mir vorzustellen, was die Musiker, wenn sie nach einer Aufnahme aus dem Tonstudio kamen, draussen auf der Strasse empfanden, wie sie auseinandergingen oder gemeinsam in einen vergammelten Bus stiegen und sich stundenlang durchschütteln liessen, um in einer Kleinstadt irgendwo an der Ostküste gemeinsam weiterzuspielen; für ein Trinkgeld. Einige von ihnen leben heute noch. Manchmal sehe ich sie auf Plattenhüllen abgebildet: weisshaarige Grossväter, offen für alles Neue, offen und wach, aber immer stumm. Ich habe sie mir nie als Sprechende vorgestellt."



Autor: Jörg Steiner / Quelle: 1960 1979