Historisches Archiv der Region Biel, Seeland und Berner Jura

Der Landesstreik in Biel

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Freitag, 8. November 1918; der Vorabend des Proteststreiks
Am Freitagabend hatte die Arbeiterunion Biel über ihre Beteiligung am Proteststreik zu befinden. Wegen Stimmengleichheit beschloss sie, sich dem Streik nicht anzuschliessen. Sie begründete dies damit, dass die nötige Zeit zur Propaganda und zur Sicherung des Erfolges fehle. Die Vertreter der Gewerkschaften wollten die Verantwortung des Streiks nicht auf sich nehmen, ohne vorher die Interessierten befragt zu haben (1). Eine spätere Versammlung des Kartells der städtischen Arbeiter im Volkshaus beschloss aber eine Beteiligung am Proteststreik (2).

Samstag, 9. November 1918; der Proteststreik
Am Samstag wurde die Arbeit in Biel nur teilweise niedergelegt. Viele Arbeitende kannten den im Volkshaus gefassten Beschluss nicht, manche waren damit nicht einverstanden. Im Lauf des Vormittags wurden sodann die Arbeitenden durch ihre streikenden Kollegen zum Niederlegen der Arbeit überredet, manche wurden dazu gezwungen. Die Stadt nahm immer mehr das Aussehen eines Festtages an. Auf den tramlosen Strassen spazierten ungezählte Menschenmassen. Aus vielen Wirtschaften ertönten Musik und Gesang. In Gruppen herumstehender Menschen wurden die Tagesereignisse besprochen. Dabei spielten auch die Gerüchte von blutigen Zusammenstössen und Bombenwürfen in Zürich und Bern eine Rolle. In Biel war kein Militär sichtbar. Der Tag verlief ruhig (3).

Montag, 11. November 1918; die Vorbereitung des unbefristeten Landesstreiks
Die Versammlung auf dem Viehmarktplatz: Etwa 10 000 Personen folgten dem Aufruf der Bieler Arbeiterorganisationen, auf dem Viehmarktplatz die Weisungen zum Landesstreik entgegenzu-nehmen (4). Ernst Bütikofer, der Präsident des Streikkomitees, und Jacques Chopard, der Sekretär der Uhrenarbeiter, erläuterten die Durchführung des Streiks. Für den nächsten Tag proklamierten sie die Schliessung der Geschäfte mit Ausnahme der Lebensmittelgeschäfte. Zudem sollten die Wirtschaften weitgehend geschlossen werden, um den Konsum von Alkohol einzudämmen. Sie ermahnten die Arbeiterschaft schliesslich, während des ganzen Streiks Ruhe und Disziplin zu bewahren (5).

Dienstag, 12. November 1918; der erste Tag des unbefristeten Landesstreiks
Der Streik auf dem Bahnhofareal: Ab Mitternacht wurden auf dem Bahnhofareal sämtliche Weichen- und Bogenlampen ausgelöscht. Der Rangierdienst stand still. Die Versammlung des Rangierpersonals beim Stellwerk III nahm die Weisungen der Streikleitung entgegen (6). Es wurden bloss noch die Rangierloks ins Depot gefahren. Das Bahnhofgelände wurde durch Soldaten des Landsturms besetzt. Dem Streikkomitee auf dem Bahnhofareal gelang es, den Streik während seiner gesamten Dauer diszipliniert durchzuführen.
Der Streik in der Stadt: Die Strassenbahn verkehrte nicht. Zeitungen erschienen keine. Die Wirtschaften blieben geschlossen, ebenso die Kaufläden, ausgenommen die Lebensmittelgeschäfte. Die vor den Fabriken aufgestellten Streikposten forderten die zur Arbeit erschienenen Arbeiter auf, umzukehren. Wer sich widersetzte, riskierte einige Püffe. In den Strassen bewegte sich eine eher bedrückte Menschenmenge, doch blieb alles ruhig. Einzig vor der grossen Uhrenfabrik Omega kam es zu Konflikten, indem die Fabriktore eingedrückt und die in der Fabrik befindlichen Arbeiter – es handelte sich um einen Teil des Büropersonals - nach Hause geschickt wurden (8). Zwei Züge, die für den Mittag aus Bern und aus Delsberg angekündigt waren, wurden von Streikenden angehalten. Die Streikbrecher wurden aus den Lokomotiven geholt (6). Beim Anhalten des Zugs aus Bern hatten sich Arbeiterfrauen auf die Geleise gestellt. Der Zugführer musste über Nidau-Lyss-Suberg-Münchenbuchsee nach Bern flüchten (9).

Mittwoch, 13. November 1918; der zweite Tag des unbefristeten Landesstreiks
Der Streik auf dem Bahnhofareal: Am Mittwochmorgen war am Bahnhof erstmals ein Maschinengewehr zu sehen (6).
Der Streik in der Stadt und ihrer Umgebung: In Twann wurden Militärzüge aus Richtung Neuenburg angehalten (6). Die in der Westschweiz aufgebotenen Truppen legten den Weg nach Biel zu Fuss zurück. In der Stadt stellten sie Wachen auf und ordneten Patrouillengänge an. Das Bürgertum hatte sich vom ersten Schrecken erholt und stellte eine Bürgerwehr auf die Beine. Um zwanzig Uhr versammelten sich Bürgerliche zu einer patriotischen Kundgebung auf dem Viehmarktplatz (heute: Neumarktplatz). Darauf mobilisierten die Jungburschen streikende Arbeiter zu einer Kundgebung auf demselben Platz. Sehr bald darauf war der Viehmarktplatz sehr dicht besetzt. Die Redebeiträge beider Seiten erhielten Applaus vom eigenen, Pfiffe und Buhrufe vom gegnerischen Publikum. Da intervenierte das Streikkomitee und forderte die Arbeiter auf, sich ruhig zu verhalten, sich nicht provozieren zu lassen, die eigene Kundgebung aufzulösen (4). Darauf zogen sich die demonstrierenden Arbeiter in Richtung Volkshaus zurück. Unter dem Schutz des Militärs zogen bürgerliche Demonstranten vom Viehmarktplatz aus in Richtung Bahnhof, patriotische Lieder in beiden Sprachen singend. (7).

Donnerstag, 14. November 1918; der dritte Tag des unbefristeten Landesstreiks
Der Streik in der Stadt und ihrer Umgebung: In der Nacht vom 13. auf den 14 November hatte das in Bern versammelte Oltener Komitee den Abbruch des Landesstreiks auf Donnerstag um Mitternacht beschlossen. Die Streikenden in Biel vernahmen diese Nachricht vorerst nur durch eine Druckschrift der bürgerlichen Presse, sie zweifelten an der Richtigkeit dieser Information. Am frühen Nachmittag wurde ein Zug aus Bern angekündigt, aber dem Streikkomitee nicht gemeldet. Es handelte sich um einen von drei Soldaten bewachten Zug, in dem sich auch Nationalräte aus Bern befanden. Als dieser Zug in Madretsch angehalten wurde, gab ein Soldat von der Lokomotive aus einen Schuss ab, der den Heizer Jenni am Arm verwundete (6). Sogleich umringte eine grosse und hell empörte Menschenmenge den blockierten Zug. In dieser Situation entschloss sich Ernst Studer vom Streikkomitee der Eisenbahner, die drei Soldaten zu entwaffnen, indem er die Verschlüsse ihrer Gewehre entfernen liess. Darauf gewährte er den Soldaten freies Geleit bis zum Kommandoposten der Armee im Hauptbahnhof (10). Am Nachmittag traf im Volkshaus die Nachricht ein, dass der Streik um Mitternacht zu Ende gehe (7). Um 16 Uhr 30 verkündete Ernst Jakob vor den versammelten Eisenbahnern: „Das Oltener Aktionskomitee hat den Abbruch des Streiks beschlossen. Der Kampf unbewaffneter Arbeiter gegen das Militär wäre unverantwortlich.“ Die meisten Anwesenden reagierten enttäuscht auf diese Nachricht, trugen den Beschluss aber mit der gleichen Disziplin, mit der sie dem Streikaufruf gefolgt waren (10). Die etwa zur gleichen Zeit im Hotel Bielerhof versammelten Arbeitgeber beschlossen, die Fabriken am folgenden Tag wieder zu öffnen (7).

Quellenangaben:
1 Vereinigte Gewerkschaftsvorstände Biel an Oltener Komitee, 18. November 1918, Archiv SGB
2 Berlincourt A. (1968). Julikrawall und Generalstreik in Biel. In: Neues Bieler Jahrbuch, 1968
3 Express, 11. November 1918
4 Ernst Bütikofer am 4. 12. 1918, in: Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern, Jahrgang 1918
5 Kaestli T. (1989). Die Vergangenheit der Zukunftsstadt. Bern, Fagus Verlag
6 Seeländer Volkszeitung vom 6. Januar 1965, Die Stimme des Gewerkschafters. Der alte Kämpfer. Von Fritz Tschäppeler
7 Müller G. (1961). Biel in Vergangenheit und Gegenwart. Bern, Verlag Paul Haupt
8 Bericht an das Polizeikommissariat Biel zu Handen des Gemeinderates der Stadt Biel über den Verlauf des Protest- und Generalstreiks vom 9. bis 14. 11. 1918
9 Rotes Bulletin. geheim. Nr. 444, 13. November 1918. Bundesarchiv.
10 Studer E. (1928). Bericht über den Verlauf des Landesstreiks auf dem Platze Biel. in: Gedenkschrift zur Erinnerung an die 10-jährige Wiederkehr des Generalstreiks des Bundespersonals vom 11. bis 14. November 1918


Autor: Christoph Lörtscher / Quelle: Christoph Lörtscher 2017