Historisches Archiv der Region Biel, Seeland und Berner Jura

So wurde unsere Region zum Treffpunkt von Demokraten aus ganz Europa

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Europa im Zeichen der Restauration

Nach der Niederlage Napoleons machte der Wiener Kongress die meisten der von Frankreich ausgegangenen Veränderungen rückgängig  - ab 1815 galten in den meisten Gebieten des Kontinents die  politischen Verhältnisse vor der Französischen Revolution. Für Österreich-Ungarn bedeutete dies die Beibehaltung der Donaumonarchie, für Deutschland und Italien die Fortdauer der Zersplitterung in zahlreiche feudale Kleinstaaten. Fast überall galten wieder die Regeln der Ständegesellschaft  - die adligen und geistlichen Herren übten die politische Macht aus, der Dritte Stand, also der weitaus grösste Teil der Bevölkerung, blieb von den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen.

Die Eidgenossenschaft zwischen Restauration und Erneuerung

Auch in der Eidgenossenschaft ging es wieder fast ganz wie unter dem Ancien Régime zu und her. Der Bundesvertrag von 1815 funktionierte wie vor der Helvetik  als lockerer Staatenbund, und in den meisten Kantonen waren im wesentlichen die alten Führungsschichten am Ruder. Immerhin herrschte in den meisten neuen Kantonen, die aus den ehemaligen Untertanengebieten hervorgegangen waren, ein für neue Ideen recht aufgeschlossener Geist. 

Die liberale Opposition und die Regeneration

Die Gegner der Restauration rekrutierten sich vor allem aus dem liberalen Lager. Sie forderten immer vernehmlicher ein Regeneration der Eidgenossenschaft. Damit meinten sie die Wiedererweckung von politischen Verhältnissen während der Helvetik und der Mediation. Die Rechte des Individuums sollten wiederhergestellt, die Bevölkerung der ländlichen Gebiete jener der Städte gleichgestellt werden. Vor allem aber wandten sie sich gegen die zahlreichen Handelshemmnisse, die sich aus der lockeren Form des Staatenbundes ergab. Eine stärkere Zentralgewalt sollte die Zölle zwischen den Kantonen beseitigen.

Die Julirevolution des Jahres 1830

In Frankreich führte der Versuch des Königs Karl X., die Reste demokratischer Mitwirkungsrechte weiter zu beschneiden, zu einem revolutionären Prozess, der bald auf mehrere europäische Staaten übergriff. Der grosse Durchbruch zur Demokratie gelang jedoch nur in Ausnahmefällen: In Frankreich wurde Karl X. zwar gestürzt, auf ihn folgte aber ein König, der als Vertreter des Grossbürgertums galt. Die Unruhen in Deutschland, Italien und Polen wurden unterdrückt. Nur Belgien, der südliche Teil der Vereinigten Niederlande, erklärte sich unabhängig und gab sich eine fortschrittliche Verfassung. Und in elf Kantonen der Eidgenossenschaft kamen die Liberalen an die Macht. Auch Bern zählte sich fortan zu den "regenerierten" Kantonen, die als repräsentative Demokratien mit Gewaltenteilung funktionierten.
Im Berner Seeland wies die Regeneration zum Teil sozialrevolutionäre Züge auf. Unter anderem wurde die Abschaffung des Zehnten und der Bodenzinsen verlangt.  Der spätere Bundesrat Ochsenbein erinnerte sich, dass überall Freiheitsbäume aufgestellt und militärische Vorbereitungen getroffen wurden. In Biel verlangten die ärmeren Schichten der Bevölkerung vor allem eine gerechtere Holzzuteilung.  Die stimmberechtigten Bieler -  wer nicht zu den Burgern gehörte, musste sich über den Besitz von 500 Franken ausweisen - nahm die neue, liberale Kantonsverfassung mit 392 gegen 6 Stimmen an.  Fortschrittliche Bieler Politiker wie Alexander Schöni und Charles Neuhaus setzten neue Akzente.

Die polnischen Freiheitskämpfer

Der Aufstand der Polen gegen die russische Vorherrschaft wurde 1831 niedergeschlagen. Den Oppositionellen drohte die Deportation nach Sibirien. Daher flüchteten etwa 50 000 Politiker und Soldaten nach Westeuropa, vor allem nach Frankreich. Im französischen Exil organisierten sich viele polnische Freiheitskämpfer unter dem Namen "Heilige Schar". Sie wollten dem nächsten Volk, das den Kampf gegen seine Unterdrücker aufnehmen wollte, zu Hilfe eilen.  Inzwischen aber verfolgte die Regierung des Bürgerkönigs Louis Philippe einen immer konservativeren Kurs. Die Polen wurden auf verschiedene Departemente verteilt, um die Aktivitäten der Legion zu erschweren.

Die "Heilige Legion" im seeländischen Exil

Mit dem Ziel, eine revolutionäre Erhebung in Deutschland zu unterstützen, waren am 9. April 1833 etwa 380 Polen nach Saignelégier marschiert.  Als sie dort vom Scheitern des Frankfurter Aufstandes erfuhren, ersuchten sie um Exil. Der Kanton Bern zeigte sich besonders offen und  quartierte die Polen im Nordjura ein, ohne sie zu entwaffnen. Erst der Protest des Deutschen Bundes veranlasste die Berner Behörden, die "Heilige Legion" im Seeland unterzubringen.  In  Biel, wo schon seit 1831 ein Solidaritätskomitee für die polnischen Flüchtlinge existierte, waren sie besonders willkommen: Die Bieler Liberalen um Alexander Schöni, Louis Rossell, Alexander Neuhaus, Albert und Charles Verdan und Auguste Weingart  feierten die Angehörigen der "Heiligen Legion" als Vorkämpfer gegen den Despotismus.  Nicht nur 60 Polen, wie der Kanton verfügte, sondern 100 bis 120 Mann wollten sie willkommen heissen,  ausserdem die 10 Offiziere des Stabes. Schliesslich wurde Biel Sitz des Stabes und des Wirtschaftsrats der Legion. Die Zahl der untergebrachten polnischen Soldaten schwankte zwischen 80 und 100 Mann. Unter ihnen befand sich Paul Kazimirowicz , der eigentlich Friese war und Harro Harring hiess. Harring betätigte sich in Biel als Quartiermacher, er selbst wurde bei Alexander Schöni untergebracht.

Neue Pläne der Legion

Im Auftrag der Legion begab sich Harring im Sommer 1833 nach Nyon, um mit italienischen Exilierten Möglichkeiten zu einem gemeinsamen Vorgehen abzuklären. Mit den Vertretern der "Carbonari" geriet er aber in Streit - währen die "Heilige Legion" demokratisch strukturiert war, verteidigten die Carbonari ihre hierarchische Struktur.  Nach seiner Rückkehr nach Biel knüpfte Harring Kontakte zu revolutionär gesinnten Deutschen.  Entscheidend war aber seine Begegnung mit Giuseppe Mazzini im September 1833: Fortan war Harring ein treuer Gefolgsmann des italienischen Revolutionärs. Er sorgte dafür, dass Mazzinis Ideen auch den Polen bekannt wurden - noch im Herbst 1833 wurde in Biel "Das Junge Polen" gegründet - nach dem Vorbild des "Jungen Italien", das Mazzini 1831 in Marseille gegründet hatte.


Mazzinis Vision

Mazzini gehörte zu den unermüdlichsten und optimistischsten Revolutionären jener Zeit. Nach gescheiterten Aufstandsversuchen in Italien fand er seit dem Sommer 1833 Aufnahme in Genf. Für den italienischen Revolutionär war die Eidgenossenschaft aber nicht nur Zufluchtsort, sondern auch Trägerin einer politischen Mission: Als eines der wenigen  Länder, in dem die 1830 /31 errungenen Freiheiten erhalten geblieben waren, sollte die Schweiz die Ideen von Freiheit und Republik in die Nachbarvölker tragen. Zudem war Mazzini fest davon überzeugt, den Schlüssel für eine Demokratisierung Europas zu kennen:  Ein bewaffneter Einfall ins Königreich Sardinien-Piemont sollte nicht nur den dort regierenden Monarchen stürzen, sondern eine revolutionäre Kettenreaktion auslösen. Seine optimistische "Dominotheorie" ging davon aus, dass das entschlossene Handeln einer kleinen, demokratisch gesinnten Streitmacht das morsche Gebälk der Restauration bald zum Einsturz zu bringen vermöge.


Der Savoyerzug 1834

Mazzini ging im Herbst 1833 daran, erste Vorabklärungen im Hinblick auf die militärische Aktion gegen Sardinien-Piemont  zu treffen. Er war bereit, das Kommando der Aktion General Ramorino anzuvertrauen, der am polnischen Aufstand teilgenommen hatte. Harring versuchte vergeblich, die Generäle Bianco und Gustav Damas zu gewinnen, da er Ramorino keinen militärischen Erfolg zutraute. Zudem ermöglichte der friesische Revolutionär direkte Kontakte zwischen italienischen, deutschen und polnischen Freiheitskämpfern. Der Angriffsplan sah vor, Sardinien-Piemont von zwei Seiten anzugreifen: 600 Mann sollten von Genf aus in Richtung Süden, 1000 Mann von Lyon aus in Richtung Osten vorstossen.
Der auf den 12. November 1833 vorgesehene Angriff wurde von Ramorino verschoben. Erst im Januar fiel den Bieler Behörden auf, dass in der Stadt immer weniger Polen anzutreffen waren - es blieb ihnen nicht verborgen, dass sich eine grössere Aktion anbahnte.  So wurde der Vormarsch des Freiheitsheeres in Richtung Genf zwar von der Bevölkerung grösstenteils unterstützt, von den kantonalen Behörden aber behindert. Nach der Verhaftung von  270 polnischen und deutschen Kämpfern bei Hermance durch Genfer Truppen konnten in Carouge nur noch 230 Mann zum Angriff vorbereitet werden. Dank einer Aktion von Schweizer Patrioten wurden unter dem Gesang der Marseillaise dem Freiheitsheer bereits beschlagnahmte Waffen  wieder ausgehändigt.
Am Samstag, den ersten Februar 1834 rückten die Kämpfer gegen den Grenzort St. Julien vor.  Ramorino führte die Truppe über Bossey nach Annemasse.  Auf diesem Weg wurden zwei Zollposten bezwungen, dabei machte das Freiheitsheer erste Gefangene. Am folgenden Tag rückten die Kämpfer in Annemasse ein.  Die Einwohner blieben vorerst zurückhaltend. Erst nach Erklärungen Mazzinis, einigen Reden und patriotischen Liedern liessen sich einige Einheimische überreden, sich an der Militäraktion zu beteiligen.  Vor dem Gemeindehaus von Annemasse wurde ein Freiheitsbaum gepflanzt, die Wappen des sardischen Königs wurden überall abgerissen.  Als einige das Zollhaus in Brand stecken wollten, intervenierte Harring und betonte, dieses Gebäude könnte in Zukunft armen Leuten als Wohnung dienen. 
Mit der Begründung, die Befreiung der in Genf festgesetzten Polen stehe unmittelbar bevor, befahl Ramorino den Rückzug nach Ville-la Grand.  Bald führte die Unentschlossenheit des Generals zu schweren Spannungen unter den Freiheitskämpfern, deren Zahl auf 180 zusammenschmolz.  Ramorino versammelte die Anführer zu einem Kriegsrat, bei dem der unter einem Fieberanfall leidende Mazzini fehlte. Die Mehrheit sprach sich für einen Abbruch der Aktion aus, und kurz darauf überliess Ramorino die Kämpfer ihrem Schicksal. Am Morgen des 3. Februar löste sich der Rest des Freiheitsheers auf.
Nach dem Scheitern des Savoyerzugs wurde die Eidgenossenschaft mit Protesten des Königreichs Sardinien-Piemont, Österreichs und des Deutschen Bundes eingedeckt.  Sardinien-Piemont verlangte dei Aburteilung aller Teilnehmer der Militäraktion, doch dazu kam es nicht. Viele Polen wurden via Calais nach England und in die USA abgeschoben.

Das "Junge Europa"

Der Fehlschlag der Militäraktion schwächte die Revolutionäre im eidgenössischen Exil erheblich.  Gerade in diesem Zusammenhang versuchte Mazzini, seiner Arbeit für ein demokratisches und brüderliches Europa eine andere organisatorische Form zu geben. Er entschied sich für die Gründung einer Organisation, die das anzustrebende Ideal verkörperte, wenn auch nur im Kleinen. Das "Junge Europa" sollte eine internationale Allianz der revolutionär gesinnten Jugend der grössten Stämme Europas darstellen - des griechisch-lateinischen, des germanischen und des slawischen Teils des Kontinents. Am 15. April 1834 wurde das "Junge Europa" von sieben Italienern, fünf Deutschen und sieben Polen in Bern gegründet.



Autor: Christoph Lörtscher / Quelle: Diverse 2011
Format: Christoph Lörtscher